Leseprobe "Basilika"




Aus: Die  Tote auf dem Filmfestival  

Es war der ideale Ferienjob. Sie konnte mit dem Fahrrad hinfahren, er war auf zwei Monate begrenzt, wurde gut bezahlt und man konnte viel erleben. Janina studierte im vierten Semester Betriebswirtschaft an der Fachhochschule in der Ernst-Böhe-Straße und bewarb sich sofort, als sie die Ausschreibung am Schwarzen Brett entdeckte: „Das Filmfestival Ludwigshafen sucht Studierende für die Zeit vom 1. August bis zum 15 September für den Service, die Kassen, den Dienst in den Festivalzelten und andere Tätigkeiten.“ Es folgten die Kontaktadresse und die zu erfüllenden Voraussetzungen. Das war ihr Traumjob. Sie würde die außergewöhnliche Atmosphäre dieses Festivals auf den Rheinwiesen genießen können und berühmte Schauspielerinnen und Schauspieler treffen. Wer war nicht schon alles da gewesen – Hannelore Elstner, Joachim Krol, Bjarne Mädel, Maria Furtwängler, Sandra Maischberger und viele andere. 

In diesem Jahr sollte auch Sebastian Mahler kommen, ein Mann wie aus dem Bilderbuch: gut aussehend, männlich markant, locker, mit einem tollen Body. Zum ersten Mal hatte sie ihn in dem Film „Gegen alle Widerstände“ gesehen, wie er im Alleingang eine Bande von Mädchenhändlern niedergemachte. Dann in „Eine einzige Nacht“ als Gentlemanverführer, der die wunderschöne Geliebte eines Gangsterbosses befreite und dabei gegen einen ganzen Mafiaclan kämpfen musste. Sein letzter Film hieß „Nie wieder allein“ und war ein bisschen kitschig, aber hinreißend. Sie schwärmte für ihn, seit sie sechzehn war, und hatte alle seine Filme gesehen. In diesem Sommer sollte er zum Filmfestival an den Rhein kommen. 

Janina ahnte nicht, was sie erwarten würde, als sie ihren Arbeitsvertrag unterschrieb. 



Der Mann, der an diesem wie an fast jedem Tag am Rheinufer entlang joggte, hätte ein Schauspieler sein können. Er sah gut aus, hatte eine athletische Figur und einen so lockeren Gang, wie man ihn von einem Leinwandhelden erwartete. Außerdem hatte er ein gewisses dramatisches Talent in der Schauspiel-AG seiner Schule bewiesen. Deshalb nahmen seine Klassenkameraden an, dass er sich nach dem Abitur der Schauspielkunst zuwenden würde. Aber er war zum Entsetzen einiger seiner Freunde Pfarrer geworden. Immer wieder hatte er darüber nachgedacht, ob es Parallelen zwischen den beiden Berufen gab, aber außer der Tatsache, dass man vor Publikum reden musste, keine weiteren gefunden. 

Franz Seyfert war Inhaber der protestantischen Pfarrstelle Ludwigshafen-Süd und hatte damit das Privileg, in der Nähe des Rheins zu wohnen. Von seinem viel zu großen alten Pfarrhaus aus waren es nur gut fünfhundert Meter bis ans Ufer. 

An diesem Septembermorgen war es noch angenehm kühl. Die tropischen Nächte der Vortage hatten vielen den Schlaf geraubt, aber nun war der Spätsommer angebrochen mit seinem wunderbaren Duft nach den ersten welkenden Blättern und den letzten kraftvoll aufblühenden Blumen auf den Rheinwiesen. Es lag ein leichter Dunst über dem gleichmäßig dahinfließenden Strom, auf dem sich ein riesiger Schubverband, haushoch mit Containern beladen, bergan mühte, und dem die beiden zu Tal fahrenden Paddelboote auszuweichen sich beeilten. Das sonore Tuckern des großvolumigen Diesels am Ende des Schubverbandes wurde gelegentlich übertönt von den reißenden Geräuschen der zwischen den Bögen der Rheinbrücke rollenden Züge. 

Die Langsamkeit des Verkehrs auf dem Fluss war ein angenehmer Kontrapunkt zu dem oft hektischen Arbeitsalltag Seyferts, der wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen nie wirklich die Gewissheit hatte, genug getan zu haben. Immer blieb etwas liegen, was eigentlich erledigt werden wollte. Zumeist waren es die Besuche bei seinen zahlreichen Gemeindegliedern, die gerne einmal ihren Pfarrer zu Hause gesehen hätten, wenn es ihnen schon aus unterschiedlichen Gründen nicht gelang, am Sonntag den Gottesdienst zu besuchen. 

Im August und September jedes Jahres verwandelte sich die Parkinsel am Rhein in quirliges Festivalgelände. Zelte wurden aufgebaut, Unmengen von Bierzeltgarnituren auf zuvor verlegten Holzbohlen aufgestellt, Filmprojektoren und Kühlwagen installiert, eine große Küche, die unumgängliche Toilettenanlage, Stehtische mit weißen Hussen, Lampions am Wasser und in den Bäumen, die am Abend eine bezaubernde Stimmung erzeugten, die Tausende von Menschen anzog. 

Jetzt, am Morgen, lag das Festivalgelände verwaist da. Alle Zugänge waren versperrt, nur ein paar Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes patrouillierten auf dem Grundstück. Weil das Festival sich bis an den Rhein ausgebreitet hatte, musste Seyfert drumherumlaufen, an den als Absperrung dienenden Bauzäunen auf der Rückseite entlang, den breiten geteerten Weg unter den hier dicht stehenden Bäumen. Man achtete vonseiten der Festivalleitung peinlich genau darauf, dass noch in der Nacht jeglicher Unrat in und um das Gelände herum weggeräumt wurde, und so wunderte sich Franz Seyfert, als er zwischen Bauzaun und Toilettenanlage etwas liegen sah, das ihn an ein weggeworfenes Bündel Kleidung erinnerte. Er trat näher – und griff zu seinem Handy. 



Janina hatte noch am gleichen Tag bei der angegebenen Telefonnummer angerufen und einen Vorstellungstermin ausgemacht. Die Wände in den Räumen des Festivals des Deutschen Films waren mit Fotos aus den vergangenen Jahren gepflastert. Sie zeigten allesamt bekannte Schauspieler und Regisseure zusammen den prominenten Vertretern der Sponsoren – und auf allen dieses ganz besondere Licht der Abende am Rheinufer. Sie hatte noch gar nicht alle Bilder betrachten können, als sie in ein Büro gerufen wurde. 

Zunächst erläuterte ihr die sympathische Mittvierzigerin auf der anderen Seite des Schreibtisches, dass ihre mögliche Mitarbeit beim Festival als Praktikum organisiert werden würde. Das mache die Sache mit der Steuer und der Krankenversicherung für alle einfacher, meinte die Frau in legeren Jeans und Pulli. Dann wurde sie nach ihrem Studium und ihren bisherigen Erfahrungen gefragt. Janina hatte schon einmal gekellnert und in einem Reisebüro zu den Stoßzeiten ausgeholfen. Auf die Frage, welche Erwartungen sie an ihre Arbeitszeiten stelle, antwortete sie, dass sie in den beiden Monaten eigentlich immer Zeit hätte, denn es seien ja Semesterferien. Die Frau hinter dem Schreibtisch betrachtete sie eine Weile, und fragte sie dann, ob sie sich vorstellen könne, der Direktion des Festivals bei der Betreuung der Ehrengäste zu helfen. Hierfür bräuchte man neben guten Umgangsformen vor allen eine gewisse geistige Flexibilität. Vermutlich weil Janina ihr Abitur mit einer Eins vor dem Komma absolviert hatte und in den Augen ihrer Betrachterin als ausgesprochen hübsch anzusehen war, wurde ihr dieses überraschende Angebot gemacht. Janina sagte mit all der Zurückhaltung, zu der sie angesichts dieser erfreulichen Perspektive noch fähig war, dass sie sich dies gut vorstellen könne. 

Die Frau hinter dem Schreibtisch hörte den kleinen Freudenschrei, den Janina beim Verlassen des Hauses ausstieß, nicht mehr. Das war nicht nur toll, das war grandios. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte sich hinter dem Vorhang beim Gläserspülen, an der Kasse oder der Theke beim Getränkeausschank, als Tellertaxi beim Abräumen des benutzen Geschirrs oder bestenfalls am Eingang eines Zeltes als Kartenkontrolleurin gesehen – aber Betreuerin der VIPs, das hatte sie nicht erwartet. Sie würde ihren Leinwandlieblingen und den anderen Promis nahe sein können.