Leseprobe aus "Vermächtnis des Bischofs"

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Auf die Ausschreibung des Bischofsamtes hatte sich drei Männer gemeldet. Einer war ein vierundzwanzigjähriger Vikar, der ausführlich begründete, warum er sich für diese Funktion für geeignet hielt. 
Er sei der Mann einer einzigen Frau, schrieb er, und stehe seinem Haus mit dem sechs Monate alten Säugling Michael ordentlich vor. Nüchtern sei er meistens, maßvoll solange er nüchtern sei, würdig wenn er nüchtern und maßvoll sei, seine Gastfreiheit sei in Studentenkreisen berühmt gewesen, ganz zum Leidwesen seiner Zimmerwirtin. Ein Säufer sei er auch nicht, auf jeden Fall nicht immer, gewalttätig nie, gütig vor allem gegenüber Hunden und Kindern, geldgierig auch nicht, obwohl ihm die Landeskirche bei seinen Bezügen recht knauserig erscheine. Ordiniert sei er noch nicht, aber das könne man nachholen. Schließlich sei der berühmte Bischof Ambrosius von Mailand an dem Tag, als man ihn zum Bischof ausrief, noch nicht einmal getauft gewesen, was man dann vor seiner Installation nachholte. Der junge Mann schien über gute Kenntnisse der Kirchengeschichte zu verfügen, dennoch sprach sich kein Mitglied des Nominierungsausschusses für ihn aus. 
Sechs Wochen waren seit jenem Tag vergangen, an dem Dr. Stein im Qualm seiner Pfeife die Ausschreibung für den Bischofsstuhl verfasste. Sechs Wochen, in denen die einen gespannt warteten und die anderen versuchten, hinter den Kulissen den Auftritt ihrer Protagonisten vorzubereiten. Die Zeitungen waren sich in Spekulationen ergangen, die Journalisten des Protestantischen Pressedienstes hatten ihre Ohren überall, um im entscheidenden Moment mit ihren Kommentaren richtig zu liegen. Sie nutzten jede Gelegenheit, um mit den Meinungsmachern der kirchenpolitischen Gruppen ins Gespräch zu kommen. Sie waren es auch, die die Sache mit Oberkirchenrat Rufus Liber an die Öffentlichkeit brachten, aber wie so oft nur halbherzig aufbereiteten. 
Rufus Liber war eigentlich noch ein junger Mann, er war gerade einmal zweiundvierzig Jahre alt. Für einen Oberkirchenrat war das kein Alter. Wäre er Pfarrer geblieben, wäre er immer noch in der Anfangsstufe der Besoldung. Aber man hatte ihn zum Oberkirchenrat gemacht, weil man die beiden anderen, die damals auch noch kandidiert hatten, nicht haben wollte. Der eine von den beiden war ein ungewöhnlich qualifizierter Theologe. Der aber hätte nicht in das Kollegium gepasst, dessen theologische Qualifikation einem soliden Mittelmaß entsprach, was dafür bürgte, dass Innovationen in der Kirche aufgrund theologischer Erkenntnisse ausgeschlossen waren. Der andere war zwar kein so guter Theologe, aber er hatte in einer Stadtrandgemeinde allen soziologischen Hemmnissen zum Trotz eine blühende Gemeindearbeit aufgebaut mit einem jungen Presbyterium und einem großen Mitarbeiterkreis. Auf ihn schauten die meisten Mitglieder der Synode mit solch einem Neid, dass der nur durch die Niederlage bei der Wahl zum Oberkirchenrat eine Satisfaktion erfahren konnte. 
Also entschied man sich für Rufus Liber, von dem man annehmen konnte, dass er die Kreise nicht unnötig stören und seinen Dienst ruhig versehen würde. Hinzu kam, dass seine Zuständigkeit die für die landeskirchliche Bibliothek, die Kontakte zu den Universitäten und das kirchliche Friedhofswesen war. Da Rufus Liber nichts mehr liebte als Papier und Bücher, war er bei dieser Arbeit gut ausgehoben, wenn auch deutlich zu hoch dotiert. 
Liber hatte einen gebeugten Gang und trug seine vollen grauen Haare sorgfältig gescheitelt. Seine Brillengläser waren so dick, dass er mit großen Kinderaugen in die Welt zu starren schien, was ihn den einen als weltfremd, den anderen als vertrauenswürdig erscheinen ließ. Er war mit seinen einhundertfünfundsechzig Zentimetern recht klein und wirkte durch die gebeugte Haltung noch kleiner. Hätte man ihm ins Gesicht sehen können, so hätte man vielleicht sein wahres Alter erraten. Der gebeugte Gang jedoch und die grauen Haare ließen ihn wie einen Mann erscheinen, der kurz vor der Pensionierung stand. 
Rufus Liber hielt sich am liebsten in der Bibliothek auf. Hier zwischen den papierenen Zeugnissen vergangener Jahre und Jahrhunderte fühlte er sich wohl, weit weg von den unerledigten Problemen der Gegenwart in einer Welt, deren Probleme sich längst von selbst erledigt hatten. Die Kirche der Gegenwart würde ihn erst dann interessieren, wenn sie Geschichte geworden war. Rufus Liber hielt sich an das, was über Jahrhunderte hinweg gegolten hatte: Das Priestertum der Männer, die Vorrangstellung der Geistlichen, der Gottesdienst am Sonntagmorgen, die Orgelbegleitung der Lieder, die Bekenntnisschriften der Reformationszeit und das Amen in der Kirche. Veränderungen hielt er für unnötig und deshalb für gefährlich.