Maimont
Ein deutsch-französischer Kriminalroman aus dem Dahner Felsenland
Wellhöfer Verlag Mannheim
ISBN 978-3-95428-268-5
Maimont
Alfred von Boyen hatte diesen Tag wie jeden Tag auf der Wiese vor seinem Haus angefangen. Er sah auf die weiße Madonna auf dem Felsvorsprung am anderen Ende des Tales. Ein heißer Tag hatte sich angekündigt und er hatte es kaum glauben können, dass ein Morgen so leise beginnen konnte. Zudem war es der Tag, an dem sie ein kleines Mädchen beerdigen würden, dessen ungewöhnlicher Tod ihn noch lange beschäftigen sollte.
Er hatte sich auf das richtige Atmen konzentriert und zehn Minuten an dem Bündel aus Reisstroh geübt, das unter der schützenden Überdachung der Terrasse aufgehängt war. Dann schritt er, den Bogen in der einen, zwei Pfeile in der anderen Hand, ins taunasse Gras hinaus. Er wollte die acht Stufen des Kyo-Do beschreiten, trat an die Vorbereitungslinie und verneigte sich zum Ziel hin. Er ging die drei Schritte zur Schießposition vor und nahm die Grundhaltung ein. Er setzte die untere Bogenspitze auf sein linkes Knie und führte den Pfeil von vorn gegen den Bogen. Aufrecht stehend bildete er eine Verbindung von Himmel und Erde. Er hatte das Gleichgewicht von Körper und Geist erreicht. Die Kraft schien aus dem Bauch heraus in den ganzen Körper zu fließen, als er beide Arme auseinander bewegte, den Bogen spannte und den Pfeil auf Augenhöhe senkte. Er fixierte die Scheibe über die Wurzel seines linken Zeigefingers, bevor sich das Geschoss wie von selbst löste und ins Ziel flog. Alfred von Boyen blieb stehen, als ob sich der Pfeil noch im Bogen befände, und wartete, bis die Resonanz des Schusses in ihm verhallt war. Dann löste er seine Haltung und trat die drei Schritte wieder zurück.
Der Tag war schon hell, doch die Amsel auf der Buche markierte weiterhin singend ihr Revier, die Strahlen der Sonne waren noch hinter dem Maimont gefangen, auf dessen dicht bewaldeter Doppelspitze es wie gelber Staub flimmerte. In den wenigen Häusern des Dorfes brodelten die ersten Kaffeemaschinen und von der Koppel am Ende der Häuserreihe drang der Hufschlag der Pferde herauf, die sich gegenseitig die Wiese hinauf trieben. Die Kraft des Morgens lag in der Luft, und von Boyen ließ den entspannten Bogen mit derselben Ruhe und Andacht wieder sinken, mit der er ihn emporgehoben hatte. Boyen war ein Meister im Bogenschießen, aber das Ziel seiner morgendlichen Übungen war nicht der Flug des Pfeils, sondern die Sammlung des Schützen.
Als er den Bogen an diesem Morgen zum letzten Mal gesenkt hatte, nahm der Schulbus unten im Dorf das gute Dutzend tobender Kinder auf, die er auf die Schulen der Gegend zu verteilen hatte. Es wohnten nicht viele Kinder in den vielleicht dreißig Häusern des Gebüg, einer ehemaligen Köhlersiedlung am Waldrand unterhalb des Maimonts, in der er sich vor zwei Jahren niedergelassen hatte. Er hatte hier die Ruhe gesucht, einen Ort zum Nachdenken, um sich neu zu orientieren, um das Leben noch einmal neu zu beginnen, wenn es nicht mit Ende fünfzig dafür schon zu spät war. Weit weg von all den großen Städten, in denen er sein Leben verbracht hatte, wollte er leben, ganz an den Rand wollte er, um von dort noch einmal auf das Ganze zu blicken. Dann hatte er dieses Haus gefunden, in einer Gegend, in der er noch nie zuvor gewesen war, weit ab von allem, das in seinem bisherigen Leben eine Rolle gespielt hatte. Wenn er hinter seinem Haus den Berg, den sagenumwobenen Maimont, hinaufschaute, so standen die letzten Bäume, die er sehen konnte, schon auf französischem Boden, und wenn er vor sein Haus trat, sah er auf die wenigen Häuser des Gebüg und über sie hinweg in ein weites Tal mit Weiden, das in der Ferne von den Hügelreihen des Pfälzer Berglandes begrenzt war.
Vielleicht war es der weite Blick über die Wälder gewesen, der ihn gerade dieses Haus kaufen hatte kaufen lassen, vielleicht auch der schützende Berg im Rücken, der für Jahrhunderte eine herausfordernde Grenze markiert hatte.
Er ging über die Terrasse zurück ins Wohnzimmer, schaute noch einmal aus dem Fenster über das Tal, legte den Trainingsanzug im Schlafzimmer ab und ging duschen. Seit seinen Aufenthalten in den Flüchtlingslagern in Ruanda und auf dem Balkan war er jedes Mal dankbar, wenn er den selbstverständlichen Komfort westlicher Lebensweise genießen konnte. Nach der Rasur zog er sich Jeans und Poloshirt an, scheitelte sorgfältig seine mit grauen Strähnen durchzogenen Haare und kochte sich seinen Milchkaffee. Neben dem Pfälzischen Tageblatt lag die New York Times, eine Reminiszenz an seine Zeit in den USA. Er hatte es versucht, die Welt aus seinem Leben auszusperren, aber sie hatte sich immer wieder hereingedrängt, und irgendwann hatte er gemerkt, dass er doch nicht ohne die Welt leben konnte. Aber es war beruhigend, dass diese Zeitung schon zwei Tage alt war, wenn sie ihn erreichte, wenn das, was in ihr stand, schon auf dem Weg war, Geschichte zu werden, sein Fach, das er fast dreißig Jahre an bedeutenden Universitäten gelehrt hatte.
„Meine Tage sind schneller gewesen als ein Läufer; sie sind dahingeflogen und haben nichts Gutes erlebt“, beklagte sich Hiob. Nein, das konnte er so nicht sagen, es waren viele Jahre gewesen, aber gerade, weil sie auch gute Jahre gewesen waren, waren sie zu schnell vergangen. Die Zeit schien langsamer zu laufen, seit er für sich die Konsequenzen aus allem gezogen hatte. Vielleicht war es gut so, aber dieses große Loch in seiner Seele tat weh, genauso wie der schreckliche Tod dieses Mädchens, das sie heute würden beerdigen müssen.
Für ihn war es nicht die erste Beerdigung in seiner neuen Rolle als Kirchdiener, aber die erste eines Kindes. Er ahnte nicht, dass dieser Tod die ängstlich gehütete Ruhe seines neuen Lebens zerstören würde.
Die Autos stauten sich an den Ortseingängen von Schönbach. Zuerst hatten noch einige Fahrer gehupt und geschimpft, aber mit der Zeit war Ruhe eingekehrt. Einige lehnten gelangweilt an ihren Karossen und rauchten, ihre Frauen saßen im Wagen und lasen den neusten Klatsch vom Hochadel, andere griffen zum Handy, um die Zeit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Weiter vorn stand eine Gruppe mit bedrückten und zugleich erlösten Gesichtern, denn es war nicht ihre Beerdigung, die sich da im Dorf abspielte.
Entsetzen lag über dem Dorf. Die Straßen waren vollgestopft mit Menschen, ein schwarzer See, der sich von der Hauptstraße in die abgehenden Gassen ausdehnte. Sie blickten alle in eine Richtung. Aber noch bewegte sich nichts am Eingang des kleinen Hauses am unteren Ende der Berggasse. Kaum einer sprach ein Wort, nur die ganz am Rand standen, wagten gelegentlich eine flüsternde Bemerkung zu dem Menschen neben sich. Die Hitze staute sich zwischen den Kleidern, die Trauer fand keine Abkühlung, die Hilflosigkeit kroch über die Felder hinauf in den Wald, der Schönbach in weitem Bogen wie eine grüne Mauer umgab. Von dort war kein Laut zu hören. Über den Feldern schwiegen die Lerchen und der Kirchturm reckte sich wie eine drohende Faust gegen den Himmel.
Als die Haustür geöffnet wurde, begann sich die Menge zu teilen und den letzten Weg frei zu geben. Dem Sarg, getragen von vier jungen Männern, folgte die Pfarrerin, dann eine junge Frau, die bei jedem Schritt in die Arme ihres Mannes sackte, der sich selbst kaum halten konnte, sodass ein anderer, ein älterer, sie noch von der anderen Seite stützten musste, dahinter ein vielleicht fünfjähriger Junge an der Hand seiner Großmutter, dann die Verwandten und Freunde. Der weiße Sarg schnitt sich durch die Menschenmenge und nahm seinen Weg zum Friedhofsberg. Der Anstieg hätte den Trägern des Sarges bei dessen geringem Gewicht gar nicht schwerfallen müssen, es war aber wohl gerade die Tatsache, dass man ein erst dreijähriges Mädchen zu Grabe trug, der diesen Berg heute so steil und die Hitze so unerträglich erscheinen ließ.
Der Tod dieses Mädchens hatte das Dorf mit Schrecken erfüllt. Vielen erschienen die Umstände unverständlich, rätselhaft. Manche versuchten für sich eine Erklärung, mit der sie doch nicht zufrieden waren.
Man mühte sich den mit dem groben Basalt der Nachkriegszeit gepflasterten Weg zum Friedhof hinauf. Wie oft hatte man schon in der Versuchung gestanden, diesen Kilometer zu fahren, um nicht die Last tragen zu müssen, um nicht beim Regen auszurutschen und bei der Sonne zu schwitzen. Aber es wäre allen als eine Missachtung der Verstorbenen vorgekommen, wenn man sie auf ihrem letzten Weg den gefühllosen Vibrationen eines Verbrennungsmotors ausgesetzt hätte.
Hinter den letzten Häusern begann die hohe Mauer des Kirchhofs, überragt von der geduckt wirkenden Kirche, deren Schatten dem Trauerzug für einige Momente Erleichterung von der Hitze gewährte. Für die Menschen im Ort sprach diese Kirche von der Hoffnung auf die Auferstehung, denn keiner konnte sich vorstellen, dass das Leben dieses Mädchens schon mit drei Jahren zu Ende gelebt sein sollte. Deshalb waren sie alle gekommen, nicht nur wie sonst üblich einer aus jedem Haus, sondern alle, denen es möglich war. Es war wie eine trotzige Demonstration des Lebens gegen den Tod, damit man ihn, wenn er seine Tat schon nicht rückgängig machte, so doch einschüchtern könnte, sodass er es nicht noch einmal wage, ein so junges Kind zu holen, den Eltern die Tochter und dem Bruder die Schwester zu nehmen.
Auf dem Friedhof angekommen floss die Menschenmenge auf die Wege, um sich dann wieder um das Grab zu sammeln. Das Vaterunser füllte das Tal und drang bis zu den Autofahrern, die in ihre Wagen stiegen, um diesen Ort der Trauer hinter sich zu lassen, während die Pfarrerin am Grab zur Schaufel griff und dreimal Erde auf den kleinen Sarg warf. Es klang hohl, als die Klumpen auf ihn fielen und über den Deckel in die dunkle Tiefe rollten.
Der Schrei der Mutter zerriss die Stille des Friedhofs und die Herzen der Menschen. Sie sackte in sich zusammen und griff in die Leere des Grabes über dem Sarg. Sie rutschte und drohte hineinzufallen, als Alfred von Boyen, der neben der Pfarrerin stand, einen Schritt nach vorn machte und sie auffing. Auf dem anschließenden Weg zur Kirche nahm er die Frau ihrem Mann ab, dessen Kräfte kaum noch für sich selbst reichten.
Die Kirche fasste nur einen Bruchteil der Menschen, man ließ den Angehörigen und engen Freunden den Vortritt. Viele hielten es für ihre Pflicht, vor der Kirche auf das Ende des Trauergottesdienstes zu warten, andere gingen zurück in ihre Häuser.