Das Axion-Experiment
ISBN 9 783738 694863 12,00 €
Prolog
Der 19. September des Jahres 2017 veränderte nahezu alles in meinem Leben. Um es naturwissenschaftlich auszudrücken: Am frühen Vormittag dieses Montags wurde an unserem Institut für experimentelle Physik in München aus einem allseits beliebten Stück belebter Natur durch stumpfe Gewalteinwirkung ein betrauertes Stück unbelebter Natur. Es dauerte eine Weile, bis man der Vorgeschichte dieses Ereignisses auf die Spur kam. Diese Wochen veränderten mein Leben einschneidend.
Mit jenem Tag hielt ein neues Denken Einzug im Institut und versuchte sich einen Platz neben der experimentellen Physik zu erobern. Es hatte zur Folge, dass wir, die beteiligten Physikerinnen und Physiker, zu ungeahnten Fragen und Antworten geführt wurden. Das Ereignis unterlag wie alle – abgesehen vielleicht von jenem vor über dreizehn Milliarden Jahren, das wir Urknall oder in der Weltsprache der Naturwissenschaften Big Bang nennen – dem Prinzip der Kausalität, deren genauen Verlauf zu rekonstruieren es neben physikalischer nun auch kriminologischer Kenntnisse bedurfte.
An jenem Morgen trank ich eine Tasse Kaffee mit dem Pförtner unseres Instituts. Das tat ich jeden Tag. Als meinen Beitrag zum gemeinsamen allmorgendlichen Genuss hatte ich ein Pfund fair gehandeltes Kaffeepulver mitgebracht. Ich fachsimpelte mit Herrn Huber über das System der Auspuffklappen des Wagens von Frau Dr. Langlotz, einer der Abteilungsleiterinnen. Meine andere Kollegin vermutete ich in den Räumen für die Versuchsaufbauten im Untergeschoss. Charlotte Kurasek orientierte sich mit ihren Arbeitszeiten an den Schulstunden ihrer Tochter und war immer früh da. Ich vermutete jedoch falsch und war nicht auf das vorbereitet, was mich erwartete.
Ich verabschiedete mich von Alois Huber, versprach ihm, am nächsten Tag den Bildband mit den grandiosen Fotos des Hubbleteleskops mitzubringen, ging die zwei Stockwerke in den Bürotrakt meines Teams hinauf, schloss mein Zimmer auf und setzte mich an den Schreibtisch. Ein Druck auf die Taste am PC und der Computer begann hochzufahren. Wie immer dauerte es zu lange. Das lag an den Sicherheitseinrichtungen der Server, die mehrfache Redundanzen verlangten, bevor sie einen einzelnen PC freigaben. In der Zeit schaute ich mich um.
Die Zimmer unserer Etage waren durch Glasfenster voneinander abgetrennt und sind es auch heute noch, wenn ich recht informiert bin. Inzwischen haben wir ein neues Institutsgebäude erhalten und das alte wird anderweitig genutzt. Man konnte in die Büros der anderen sehen. Mir fiel auf, dass die Tür zum Raum von Charlotte Kurasek offen war und ihre Aktentasche auf dem Schreibtisch stand. Das war ungewöhnlich. Dr. Kurasek stellte die Tasche immer sofort neben den Tisch, wenn sie sich setzte, um ihren Rechner hochzufahren. Die Aktentasche auf der Schreibtischplatte, das hatte ich noch nie gesehen. Ungewöhnlich, aber zunächst nicht von Bedeutung. Es gehört jedoch zu meinem Job, den Dingen auf den Grund zu gehen. Dieser Wunsch ist ein dominierender Teil meiner Persönlichkeit. Außerdem dauerte es zu lange, bis mein Computer startklar war, und ich mit der Arbeit beginnen konnte. Also stand ich auf, ging auf den Flur und zu Charlotte Kuraseks Zimmer, zog die Tür ein Stückchen weiter auf und schaute hinein. Ich sah sie erst, als ich neben den Schreibtisch trat.
Sie lag auf dem Boden, Arme und Beine seltsam angewinkelt, der Rock hochgeschoben, der Pullover zerrissen, die schönen langen Haare in einer Lache dunklen Bluts, die Augen geschlossen.
Ich hatte das Gefühl, dass der Boden unter mir vibrierte. Meine Beine trugen mich nicht mehr. Das hatte ich noch nie an mir beobachtet. Ich glitt auf den Besucherstuhl und starrte auf die Tote. Eigentümliche Gedanken überfielen mich. Sie war auch jetzt noch, verkrümmt und blutig, schön. Ich bekam Angst, wurde ganz starr. War es die Gegenwart des Todes, die mich lähmte? Da war ein Schuldgefühl, nicht da gewesen zu sein, als sie Hilfe brauchte. Ich empfand eine eigentümlich intime Nähe zu der Frau, die ich bewunderte. Gefühle, die ich bisher nicht gekannt hatte, verkrampften meinen Körper.
Vielleicht lebte sie noch. Ich zwang mich, die notwendigen Schritte auf sie zuzugehen, beugte mich hinab und legte zwei Finger an den Hals. Nichts, kein Puls, nur wächserne Kälte.
Was ich in den nächsten fünfzehn Minuten tat, erinnere ich nicht mehr, kann es aber rekonstruieren. Ich stand auf, ging in mein Zimmer, rief Herrn Huber an, dass er die Polizei benachrichtige, lief hinauf zum Vorzimmer von Professor Miller und bat Frau Sorglos, den Chef zu informieren.
Anschließend begab ich mich zurück zu den Büros meines Teams. Keiner war da. Bald, so vermutete ich, würde es hier von Polizisten und Technikern zur Untersuchung des Tatorts wimmeln. Ich nahm mir einen Stuhl und setzte mich vor die Tür zu Charlottes Zimmer. Niemand sollte hinein. Ich hatte das Gefühl, ich müsste sie beschützen. Ich wusste, dass es zu spät war. Trotzdem – ich musste aufpassen. Niemand sollte dieses Zimmer betreten. Was war passiert? Ich verstand nichts.
Vielleicht sollte ich mich zunächst einmal vorstellen. Mein Name ist Sebastian Rasch. Ich bin inzwischen 33 Jahre alt und – wie wir alle – nicht als Fertigprodukt auf diese Welt gekommen, quasi mit vorgeprägten, unabänderlichen Eigenschaften und Fähigkeiten, vergleichbar einem Haushaltsroboter.